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Reformpädagogik und sexueller Mißbrauch

Einfallstore für sexuellen Missbrauch im reformpädagogischen Kontext
(am Beispiel der Odenwaldschule)
1

(aus Matthias HOFMANN: Geschichte und Gegenwart Freier Alternativschulen. Eine Einführung.
1. Aufl. Ulm 2013: Verlag Klemm+Oelschläger, S. 84-90)

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Es geht in diesem Kapitel nicht darum sexuellen Missbrauch in Institutionen zu beschreiben.2 Hier wird ein Versuch unternommen einen Zusammenhang zwischen reformpädagogischen Konzeptionen, reformpädagogischen Persönlichkeiten und den Möglichkeiten zu sexuellem Missbrauch aufzuzeigen. Wenn konzeptionelle Unklarheit (im Sinne von Abgrenzung gegenüber Begriffen wie bspw. dem ‚pädagogischen Eros’) oder gar Offenheit (für eine wie auch immer deklarierte körperliche und/oder sexualisierte Nähe im pädagogischen Verhältnis) mit einer pädophilen Neigung bei PädagogInnen zusammenwirken, dann begünstigt das zweifelsohne die Möglichkeiten von Pädophilen ihre Neigungen auszuleben.

Bei der Recherche zu diesem Kapitel stellte ich mir die Frage, ob es mehr als einen 'herbeigeredeten' besonderen Bezug zwischen Landerziehungsheimen im Allgemeinen als Teil der reformpädagogischen Landschaft, der 'Freien Schulgemeinde Wickersdorf (FSG)' im Besonderen und Freien Alternativschulen gibt.

Das Archiv der deutschen Jugendbewegung hat anlässlich des 100 Jahrestages der Gründung der FSG3 eine umfassende Sammlung von Beiträgen unter der Federführung von Hartmut Alphei4 und Ulrich Herrmann herausgegeben.5 In einem Beitrag heißt es zum Zusammenhang mit den Alternativschulen: „[...]und Florian Conrad-Roesner […] Leiter der Freien Schule Untertaunus – geben Einblicke in Schule von heute […]. Beide (und viele andere) sind – gewollt oder ungewollt – der „Idee“ des Gustav Wyneken verpflichtet [...]“6 Es gibt sicherlich eine Reihe von pädagogischen Elementen, die u.a. auch bei Wyneken zu finden sind (beispielsweise der Ausflug) und auch zum Alltag an Freien Alternativschulen gehören. Wer sich allerdings explizit auf Wyneken bezieht wie hier geschehen, der sollte sich meines Erachtens auch dessen pädophilen Seiten widmen.7

Im Jahr 2010 kamen die Missbrauchsvorwürfe gegen LehrerInnen an der Odenwaldschule endgültig ans Licht. 1999 konnte man in der Frankfurter Rundschau darüber lesen. Folgen hatte diese erste Information der Öffentlichkeit damals nicht.

In einem Buch über alternative und ‚reformpädagogische’ Schulversuche darf ein solches Kapitel nicht fehlen, weil es aufmerksam macht. Es macht aufmerksam auf die konzeptionellen Gefahren (Nähe in einer pädagogischen Beziehung, Schulfahrten usw.) und auf einen eindeutigen Bedarf an Abgrenzung und Klarheit. Spätestens seit dem bekannt wurde, dass in der Odenwaldschule seriell und über Jahrzehnte8 hinweg Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht wurden, muss man sich dem Thema im alternativpädagogischem Bereich stellen und einen kritischen Umgang mit dem ‚kleinen Heiligtum’ der ‚Reformpädagogik’ und ihrem temporären ‚Flaggschiff Odenwaldschule’ finden.

Jürgen Oelkers weißt zu recht darauf hin, dass es neben einem kritischen Diskurs zu Begriffen wie dem 'pädagogischen Eros' auch grundsätzlich um Formen von Herrschaft im reformpädagogischen Kontext geht.9

Die Gründerväter

Gustav Wyneken gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Landerziehungsheimbewegung. Wyneken lebte vor mehr als hundert Jahren mit Kindern und Jugendlichen in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf zusammen. Ähnlich wie Internatsfamilien an der Odenwaldschule funktioniert hier die Kameradschaft. Als zentrale Aufgabe dieser Kameradschaft benannte Wyneken, dass sie der zentrale Ort für den pädagogischen Eros sei.10 Wyneken baut enge Beziehungen mit den Jungen auf, missbraucht sie sexuell und begründet das mit dem pädagogischen Konzept des ‚Eros’. Für die Jungen sei das eine tiefe und bereichernde Erfahrung. Er bezog sich auf Textstellen bei Goethe bzw. Nietzsche11 und argumentierte, dass diese Praxis nicht seiner Triebabfuhr dienen würde. Er sprach von einer ‚ernsten und heiligen Atmosphäre’. Man bedenke: Wyneken genoss in ‚reformpädagogischen’ Kreisen und der in der Jugendbewegung seiner Zeit hohes Ansehen.

Gustav Wyneken hatte Wegbegleiter, darunter auch Paul Geheeb12, der mit ihm gemeinsam die Freie Schulgemeinde Wickersdorf leitete. Später (1910) gründete Geheeb die Odenwaldschule. „[Sie] teilten viele Vorstellungen. Ihnen ging es um die Pflege und Ausbildung des Körpers und die Erziehung der Schüler zur Selbsttätigkeit im Lernen. Sie sahen ihre Zöglinge als absolut gleichberechtigte Personen an. Das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern sollte freundschaftlich eng sein. Gerold Becker stellte sich, als er 1972 die Schule übernahm, ganz in diese Tradition. Er erhob die nahe Beziehung zwischen Schülern und Lehrern zum zentralen pädagogischen Instrument.“13

Der pädagogische Eros

Das Konzept des pädagogischen Eros14 hat Tradidtion und ist unterschiedlich interpretiert worden. In Athen vor 2500 Jahren war es anerkannt, dass es sexuelle Beziehungen zwischen Männern und Jungen gab.15 Im reformpädagogischen wie auch im geisteswissenschaftlichen Diskurs wurde und wird oft Bezug auf die ‚vorplatonische Epoche’ genommen. Hartmut von Hentig, der vielleicht populärste ‚Reformpädagoge’ unserer Zeit vertritt dieses Konzept.16 2010 hielt er eine Festrede in Stuttgart. „Jeder Erzieher solle etwas von pädagogischer Liebe in sich tragen – auch als „eine Form der ‚persönlichen Liebe’“ sagte Hentig.“17 Sein Verständnis vom pädagogischen Eros ist keines, das direkt mit der sexuellen Triebabfuhr arbeitet. Der Erosbegriff bei von Hentig ist eine Triebkraft auf dem Weg zu mehr Erkenntnis. Das dieser Gedanke auch für Pädophile anschlussfähig ist, da sie die Verbindung von Eros, Triebkraft und Pädagogik in ihren Diskurs integrieren, ist nachvollziehbar.

Pädagogik findet stets im Spannungsfeld von Nähe und Distanz statt. Es ist die Aufgabe der PädagogInnen die Grenzen zu wahren und die Aufgabe aller beteiligter Erwachsener ist es, Strukturen zu schaffen, die Missbrauch jeder Art verhindern. Das Konzept des pädagogischen Eros ist hierfür gänzlich ungeeignet. Es ist als pädagogisches Konzept auch nicht notwendig um eine weniger distanzierte, gleichwürdige Beziehung zwischen SchülerInnen und LehrerInnen zu beschreiben (siehe das Kapitel Jesper Juul).

Vor diesem Hintergrund kommt C. Füller in seinem Buch ‚Sündenfall’ zu dem Schluss, dass nicht einzelne Lehrer die Internatsfamilien in der Odenwaldschule als Ort missbraucht hätten um ihren pädophilen Neigungen nachzukommen. Sie haben die ‚Familien’ ihrem eigentlichen, schon von Wyneken proklamierten Zweck zugeführt.18 Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass alle LehrerInnen in Internatsfamilien missbräuchlich gehandelt hätten. Aber es verweist auf die Konzeption der 'Familie' als ein konzeptionelles Einfallstor. Solche Tore müssen benannt und analysiert werden, damit sie nach Möglichkeit 'bewacht' und 'geschlossen' werden können.

Schulen reformpädagogischer Prägung und Alternativschulen bilden Gesellschaft ab und müssen sich somit auch den unangenehmen Seiten des Lebens stellen. Ein: „Bei uns kann so etwas doch gar nicht passieren!“ ist ein Fehler. Eine solche Haltung macht unaufmerksam und entspricht nicht immer der Realität.

Gerade wenn im Kontext der Pädagogik in Freien Alternativschule von einer anderen und besonderen Nähe in der Beziehung zwischen LehrerInnen und SchülerInnen (im Vergleich zur öffentlichen Schule) gesprochen wird, darf auf eine trennscharfe und kritische Auseinandersetzung mit den hier beschriebenen 'Einfallstoren' nicht verzichtet werden.

Internat

Die OSO wurde in der Tradition der Landerziehungsheime als Schule mit Internat gegründet. Die Kinder und Jugendlichen leben in sogenannten Familien gemeinsam mit ihren LehrerInnen. „Die Schule ist mehr als eine Schülerdemokratie und sie ist zugleich mehr als eine Schule. Die OSO fußt auf der Idee, das Leben ihrer Schüler auch außerhalb des Unterrichts zu gestalten. Daher ist die Odenwaldschule ein Internat.“19

In der OSO betreuten LehrerInnen besagte ‚Familien’. Hier wohnten sie gemeinsam mit den SchülerInnen. So auch Becker und Herder. „Die beiden Pädophilen waren grundverschieden in ihrer Art. Oben der unansehnliche, zurückgezogene Mann, unten der eloquente Schulleiter und Menschenversteher.“20 21

An der OSO fehlte es an LehrerInnen, die als VertrauenslehrerInnen oder Heimleitung die Machenschaften ihrer KollegInnen hätten kontrollieren können.22

Gerold Becker

G. Becker galt als eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der bundesdeutschen Bildungslandschaft. Er kam aus der Jugendarbeit. „Becker suchte Anfang der 1960er Jahre sogar den pädophilen Ideengeber der reformpädagogischen Bewegung, Gustav Wyneken, in Göttingen auf. Gerold Becker lebte die Ideen einer pädophilen und politischen Jugendkultur.“23 Er übernahm die Leitung der OSO. Unter seiner Leitung zog das libertäre Klima der „68er“ in der Odenwaldschule ein. Diese Öffnung, mehr Freiheiten, Alkohol, Kiffen, freie Sexualität... „Das war der Hintergrund, vor dem die libertären Lehrer nicht merkten, dass sie einer neuen Ideologie aufsaßen. Während sie von Freiheit träumten, entstand in der Wagenburg Odenwaldschule eine Art totaler Institution. An ihrer Spitze stand ein charismatischer Führer, bei dem sich herausstellen sollte, dass er freie Liebe predigte, aber Sex auch erzwang.“24

Becker ging mit seinen pädophilen Neigungen bzw. mit seiner Sexualität nicht dezent um. Er besprach sexuelle Fragen oft öffentlich. „Es war eines der Motive, die er nicht selten in pädagogischen Reden vertrat: sich und seine Sexualität ernst zu nehmen. Diesmal [in einer Rede vor Hunderten von Gästen; M.H.] drückte es Becker so aus: ‚Dass der Einzelne sich mit seiner Triebwelt geradezu befreunden muss, wenn sein Ich nicht durch die Angriffe aus dem Hinterhalt des Verdrängens ständig gefährdet sein soll.’“25 In die oben beschriebene scheinbar freiheitliche Atmosphäre mischte sich das Thema Sexualität. Die Trennschärfe zu Pädophilie fehlte. Becker und sein Kreis nutzten diese Atmosphäre auf ihre eigene Art. „Die Odenwaldschule ist seit Ende der 1960er Jahre schrittweise unter den Einfluss einer Gruppe pädophiler Lehrer gekommen. [...] Die Frage ist: Hat sie die Besonderheit der Reformpädagogik genutzt? Welche Rolle spielen reformpädagogische Versatzstücke wie die Nähe zum Kind, die Abgeschlossenheit der Internatsfamilien oder die pädagogisch inspirierten Ausflüge?“26

Becker schreibt 1971 über verbesserte Möglichkeiten für Kinder, wenn man ihnen Möglichkeiten zum sozialen Lernen gibt. „Es ist auch eine Schrift voller Sex. ‚Die mich beglückende und die den anderen beglückende Funktion der Sexualität ist unter Konsumzwängen zumindest ebenso (vielleicht noch mehr) gefährdet wie unter Tabus’, schrieb Becker. ‚Das Individuum mit seiner eigenen Triebwelt ... zu befreunden bleibt eine der immer wieder zu lösenden zentralen Aufgaben.’ [...] ‚Bestimmt man das Lernziel ‚Freude am eigenen Körper haben, die eigene Sexualität zu bejahen und genießen’, wird unmittelbar deutlich, dass die Erreichung dieses Ziels außerordentlich erschwert wird, wenn das kleine Kind in einer Atmosphäre der Leibfeindlichkeit.... aufwächst.’ “27

Schulstruktur

Das ‚System Becker’ funktionierte so lange, wie Becker als Internatsleiter jedes Korrektiv innerhalb der Schulorganisation verhinderte. „Die Schule bestand vor Gerold Becker aus zwei Polen, die sich gegenseitig kontrollierten, aber auch inspirierten: der Konferenz und dem Schulleiter. Kurze Zeit nach Beckers Amtsantritt waren beide Pole der Schule verschwunden. Die Konferenz war entmachtet und der Schulleiterposten praktisch verwaist.“28 In der Konsequenz heißt das, dass jede Institution, in der Kinder und Jugendliche begleitet werden, ihre Strukturen dahingehend überprüfen muss, ob sie über einander kontrollierende Kräfte verfügt.

Aber nicht nur Becker und ein kleiner Kreis lebten ihre Neigungen aus. „Der Kreis jener Lehrer, die die Schule als ihr sexuelles Revier betrachten, geht aber weit über die Gruppe der Pädosexuellen hinaus.“29 Ein Nachteil, der aus der reformpädagogischen Konzeption der OSO entstanden ist, ist der Umstand, dass die LehrerInnen- oder ErzieherInnenrolle nicht klar definiert war. „Ein Lehrer muss beinahe 24 Stunden im Einsatz sein, wenn er zugleich der Lehrer, der Aushilfsvater und der Erzieher seiner Schüler sein soll.“30 Das führt dazu, dass PädagogInnen so beschäftigt sind, dass sie weder ihren KollegInnen über die Schulter schauen können noch dass sie Zeit haben ihr Verhalten zu reflektieren. Das soll nicht entschuldigen, denn auch unter diesen Umständen haben es LehrerInnen in der OSO geschafft, eine gute Arbeit zu leisten. Aber es verdeutlicht, dass es gefährlich ist, wenn die LehrerInnenrolle sich mit Privatem vermischt. Das war aber ursprünglich die reformpädagogische Absicht: „Wenn Bildung nicht nur die Vermittlung von Wissen sein soll, sondern ein ganzheitlicher Prozess, dann braucht es die Einheit von Leben und Lernen. So dachten es die Gründerväter der Landerziehungsheime, allen voran die bekanntesten unter ihnen, Hermann Lietz, Paul Geheeb oder Gustav Wyneken.“31

Aus dem Zeitgeist der ‚68er Bewegung' heraus wurden auch die ersten Freien Alternativschulen gegründet. Ende der 1970er Jahre erscheint ein Buch von Lutz van Dick mit dem Titel: „alternativschulen. information- probleme- erfahrungen“32. Auch hier finden sich Textstellen, die auf Pädophile einladend wirken können. Im Kapitel 4a (Beispiele aus dem Erfahrungsbereich: Sexualität und Zärtlichkeit in der Schule) zitiert van Dick zunächst Reinhart Lempp (Professor für Kinderpsychatrie) mit den Worten „Es ist nicht die Erwachsenensexualität, die das Kind bedroht, sondern es ist die Erwachsenengewalt, vor der das Kind geschützt werden muß.“33 Van Dick konstruiert einen relativierenden Vergleich von Gewalt gegen Kinder und Sexualdelikten an Kindern. Er kommt zu dem Schluss: „Nun, auch in der Schule darf (auch vom Lehrer) eher geschlagen werden, als dass ein Kind mal gestreichelt oder in den Arm genommen wird.“34 Weiter führt er aus, dass man von Kindern lernen könne, dass Sexualität mehr sei, als „[...] nur Gut und Böse, mehr als Geschlechtsverkehr für Erwachsene und ein Nichts für Kinder.“35 Lutz van Dick erklärt dann selbst, worum es ihm geht. „Worum es mir geht, ist nicht, einen Traum von absoluter freier, offener, ungezwungener Sexualität zwischen Erwachsenen, Kindern sowie Kindern und Erwachsenen neu zu träumen (wie während der Studentenbewegung vor ein paar Jahren), sondern die Humanisierung unseres oft brutalen (Schul-)Alltags voranzutreiben. Dabei geht es am wenigsten um frei ausgelebte Sexualität (wie soll das auch bei einer dermaßen gefühlskalten Umwelt gehen?), sondern um das Wahrnehmen von einfachen Gefühlen wie Freude, Traurigkeit, Zuneigung, Ablehnung usw., um ein Anfassen- und Streichelnkönnen; um das Zeit haben für Gespräche, für ein ‚auf dem Schoß sitzen’, für ein Zuhören (auch gerade des Lehrers den Kindern!); um das Ernstnehmen von großen und kleinen Sorgen usw. Kurz: um das Aufbauen einer Atmosphäre, in der Voraussetzungen für Liebe erst einmal wieder geschaffen werden [...].“36 Man kann sich vorstellen, wie einladend diese Forderungen auf Pädophile wirken: Auf dem Schoß sitzen, zuhören und Verständnis haben, eine Atmosphäre für ‚Liebe’ aufbauen und anfassen und streicheln können.

Vermutlich kennen die wenigsten AktivistInnen in der Alternativschulszene das Buch von Lutz van Dick oder gar das konkrete Zitat wirklich.37 In den Büchern und Artikeln zum Thema 'Alternativschulen' ist es eines der am meisten zitierten Bücher.

Das Wissen um dieses Einfallstor kann sensibilisieren und sollte bei den Diskussionen um die Grenzen zwischen LehrerInnen und SchülerInnen oder in den Diskurs um die ‚Nähe zum Kind’ mit einbezogen werden. Wenn man völlig zu recht davon ausgeht, dass es kein Lernen ohne Beziehung und keine Beziehung ohne Lernen gibt38, dann ist es unumgänglich diese Beziehung zu definieren und ihre Grenzen unmissverständlich aufzuzeigen.

C. Füller fasst in Bezug auf die Odenwaldschule zusammen: „Die Idee der Nähe zum Kind, des Lernens und Lehrens auf Augenhöhe, die erlebnispädagogischen Ausflüge und die Strukturen der Internatsfamilien waren beides für Pädosexuelle: ein idealer Instrumentenkasten, um eine übergriffige Nähe zu Kindern und Jugendlichen herzustellen. Und zugleich eine perfekt harmlose Tarnung für teilweise brutale Übergriffe auf Schüler.“39

Christian Füller zieht ein differenziertes Fazit: „Weder die Odenwaldschule noch die Reformpädagogik hatten das Ziel, Kinder zu missbrauchen. Das ist Unsinn und das behauptet auch niemand. Aber sie geben eine ideale tarnende Umgebung für pädophile Straftäter ab. Und bilden eine Schar von positiv gestimmten Mitgliedern, die aus vollster Überzeugung den Angriff auf ihre Lehrer abwehren – gegen die Betroffenen.“40

Bei der Recherche zu diesem Kapitel traf ich auf ein Buch, dass es sich zum Ziel gesetzt hat, Schutzräume für Kinder vor sexuellem Missbrauch zu thematisieren. Es trägt den Titel ‚Sichere Orte für Kinder’41 und bezieht sich auf offene Freizeiteinrichtungen. Es könnte als Ausgangspunkt für eine weiter gehende Auseinandersetzung mit der Thematik dienen.




1 Die Überschrift dieses Kapitels ist an den Titel eines Workshops auf dem BFAS Bundestreffen 2011 mit Christian Füller angelehnt (Konzeptionelle Einfallstore für sexuellen Mißbrauch).

2 Konkrete Erfahrungen von SchülerInnen der Odenwaldschule finden sich u.a. in dem Buch ‚Sündenfall’ von Christian Füller bzw. in dem Buch ‚Wie laut soll ich denn noch schreien?’ von Jürgen Dehmers.

3 FSG: Freie Schulgemeinde Wickersdorf

4 Hartmut Alphei (geb 1940) war Mitarbeiter von von Hentig, Lehrer an der Odenwaldschule und ist Mitbegründer der Freien Schule Lindau. Von der VW Stiftung finanziert hat er das Archiv der Odenwaldschule erschlossen und bearbeitet (Ergebnispräsentation im Oktober 2004). Kaum jemand dürfte so umfangreiche Kenntnisse über das Archiv der Odenwaldschule haben und zugleich über historisch fundierte Kenntnisse zu Gustav Wyneken verfügen wie H. Alphei. Er stellt die Freien Alternativschulen in einen Zusammenhang mit der FSG: “Sie [die Reformpädagogik; M.H.] propagiert die Erziehung vom Kinde aus und fordert das Recht auf einen Freiraum für die heranwachsende Jugend. Wo könnte man das besser studieren als bei Gustav Wyneken, und wo wurde diese Grundhaltung überzeugender gelebt als in Wickersdorf?! Glücklicherweise gibt es auch heute eine zunehmend beachtete Gegenbewegung gegen die Vergreisung der öffentlichen Schule. Das sind die Freien Alternativschulen. Ihre Zahl wächst, und die Öffentlichkeit nimmt sie mittlerweile wahr." Alphei in: Stiftung Jugendburg Ludwigstein 2007; S.284. Alphei schreibt ein 16 seitiges Kapitel mit 46 Fussnoten zum 100jährigen Jubileeum der FSG Wickersdorf, in dem Wyneken und seine FSG zum 'Kult' und 'Kultort' stillisiert werden, ohne eine einzige kritische Andeutung zum Missbrauch Wynekens an Schülern oder seinem Engagement für die 'Knabenliebe' zu verlieren.

5 STIFTUNG JUGENDBURG LUDWIGSTEIN UND ARCHIV DER DEUTSCHEN JUGENDBEWEGUNG (Hrsg.): Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung. Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf.; Schwalbach/Taunus 2007

6 ALPHEI/HERRMANN in: Stiftung Jugendburg Ludwigstein 2007; S.20

7 In seinem Beitrag 'Theorie und Praxis der Freien Alternativschulen als neuer reformpädagogischer Bewegung' anlässlich der Würdigung von Wyneken nimmt F. Conrad-Roesner Bezug auf die pädagogischen Überzeugungen Wynekens als Grundlage für die Konzeptionen Freier Alternativschulen. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem verurteilten Pädophilen und Propagandisten einer 'Knabenliebe' im pädagogischen Kontext Gustav Wynekens lässt der Beitrag vermissen.

8 „Übergriffe auf Kinder fanden laut Untersuchungsbericht von Burgsmüller und Tilmann an der Odenwaldschule seit dem Jahr 1965 statt. Jeweils 1970 und 1973 stieg die Zahl der notierten Betroffenen stark an. Laut den Berichten der betroffenen Schüler ist Gerold Becker jene Person, die am häufigsten mit sexueller Gewalt in Verbindung gebracht wird.“ FÜLLER, C.: Sündenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte. Köln 2011; S.225

9 OELKERS, J.: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. Weinheim und München 2011

10 Vgl.: FÜLLER 2011; S.132

11 Auch wenn Nietzsche nicht unumstritten ist: er bezog den Erosbegriff seiner Zeit nur auf erwachsene Frauen. „Man soll, um vom Eros nicht ganz unterjocht zu werden, sich mit den weniger schönen Weibern einlassen.“ In: Nietzsche Register, Stuttgart 1943; S.104. Zitiert aus: Die Unschuld des Werdens (Nachlaß 1); S.290. Bei J. Oelkers heißt es: „Nietzsche war nicht, wie die vielen zeitgenössischen ‚Bewegungen’ an der Erneuerung, sondern an der Abschaffung der Moral interessiert, weil er in jeder Form von Moral nur eine Herrschaftsattitüde sehen konnte. [...] Das ist zu radikal für jede Version von Reformpädagogik.“ OELKERS 2005; S.89.

12 „Geheebs Begehren kannte keine Grenze. Klaus Mann etwa beschrieb ihn als einen älteren lüsternen Herrn, der sich schamlos an Schülerinnen heranmachte. ‚Die nahen Beziehungen Geheebs’, sagt auch Biograf Martin Näf,’hatten oft etwas, was wir heute als übergriffig bezeichnen würden.’“ FÜLLER 2011; S.46

13 FÜLLER 2011; S.131

14 „Auch Gustav Wyneken war ein glühender Anhänger der griechischen Erziehungskunst. ‚Der Mann sieht den Knaben’, schrieb Wyneken, ‚so schön und adelig, wie seine Liebe ihn sich träumt. Diesem Eros des Mannes kommt aber eine Sehnsucht des Knaben entgegen.’ Es gehe um ‚die wunderbare Vertiefung des Gefühlslebens und der Empfänglichkeit’.“ In: FÜLLER 2011; S.133.

15 Eine Quelle hierfür ist die Erzählung über Sokrates, den ein Jüngling unbedingt verführen wollte. Sokrates geht nicht auf dieses Werben ein. Oder Nietzsche, der sich mit den Texten und der Kultur des alten Griechenlandes sehr gut auskannte: „Die erotische Beziehung der Männer zu den Jünglingen bei den Griechen ist Voraussetzung der männlichen Erziehung [in der hellenischen Antike; M.H.].“ In: Nietzsche Register, Kröner Verlag 1943. Zitiert aus: Menschliches, Allzumenschliches Teil 1; S.210.

16 „Es gibt Akteure in der Reformpädagogik, die erotisch- sexuelle Elemente in ihre erzieherischen Konzepte einbauen – und es ausdrücklich rechtfertigen. Dazu gehören frühe Helden der Landerziehungsheime, die vielen päderastischen Lehrern eine Heimat gaben. Aber auch die beiden heimlichen Bildungsminister der Republik, Hellmut Becker und Hartmut von Hentig, sind in dieser Hinsicht interessant. Beide sind selbstverständlich nicht als pädophile Täter anzusehen. Sie propagieren Eros nicht als Instrument der Befriedigung, sondern sie pflegen einen viel feineren platonischen Begriff von pädagogischem Eros. Aber beide beziehen in explizit auf Erziehung.“ Füller 2011; S.248

17 FÜLLER 2011; S.132

18 Vgl.: FÜLLER 2011; S.134

19 FÜLLER 2011; S.41

20 FÜLLER 2011; S.91

21 Mit 'oben' ist der erste Stock, mit 'unten' das Erdgeschoss des Hauses gemeint.

22 Vgl.: FÜLLER 2011; S.91

23 FÜLLER 2011; S.62

24 FÜLLER 2011; S.51

25 FÜLLER 2011; S.74f

26 FÜLLER 2011; S.81

27 FÜLLER 2011; S.84

28 FÜLLER 2011; S.122

29 FÜLLER 2011; S.123

30 FÜLLER 2011; S.127

31 FÜLLER 2011; S.128

32 Lutz van DICK: alternativschulen. Information- probleme- ertfahrungen. Reinbek bei Hamburg; 1979.

33 LEMPP, Reinhart: Angst vor dem Sittenstrolch, in STERN, 24 6/1977, S.102. So zitiert in DICK 1979; S.323 (Fußnote).

34 DICK, 1979; S.159

35 DICK, 1979; S.159

36 DICK, 1979; S.159/161

37 Ich möchte an dieser Stelle mutmaßen, dass Lutz van Dick nicht bedacht hatte, dass Ausführungen wie die zitierten mehrdeutig sind. In seinem 2007 erschienenen Buch ‚Die Geschichte von Liebe und Sex’ beschreibt van Dick unter dem Stichwort Kindersex, dass Kinder eine eigene Sexualität haben und die Erwachsenen im Kontext der antiautoritären Pädagogik die Kinder beraten oder unterstützen. „Kinder dürfen auch sexuelle Erfahrungen sammeln und werden dabei von Erwachsenen unterstützt und beraten.“ DICK 2007; S.169. Auch wenn die Trennschärfe fehlen mag, kann ich keine Ermunterung zum Ausleben pädophiler Neigungen aus seinen Zeilen herauslesen. Zumal sich seine Ausführungen konkret auf das Schulprojekt Summerhill beziehen und A.S. Neill meiner Kenntnis nach keine Zweideutigkeiten in diesem Zusammenhang formulierte.

38 So der Titel einer aktuellen Fortbildungsreihe der BFAS.

39 FÜLLER 2011; S.96

40 FÜLLER 2011; S.247

41 KROLL, Sylvia/ MEYERHOFF, Fred/ SELL, Meta (Hrsg.): Sichere Orte für Kinder. Stuttgart 2003