Sichere Orte für Kinder

Sichere Orte für Kinder

Kinderrechte und Kinderschutz
gehören untrennbar zusammen

Das Schutzkonzept ist in der Erarbeitung genauso wichtig wie das pädagogische Konzept der Schule. Es muss in der Priorität auf der gleichen Ebene wie dieses stehen, und bedarf der kontinuierlichen Pflege.
 
Texte:
 

 
Sichere Orte - Schutzkonzepte!
(aus bfas / Klaus AMANN, Tilmann KERN, Nicola KRIESEL (Hrsg.):
Freie Schule gründen. Ein Handbuch in 15 Bausteinen.
Norderstedt 2023: BoD - Books on Demand, 1. Aufl. S. 23-32)

Warum ist uns das Thema wichtig?
Kinderschutz und Kinderrechte gehören untrennbar zusammen.

Das Schutzkonzept ist in der Erarbeitung genauso wichtig wie das pädagogische Konzept der Schule. Es muss in der Priorität auf der gleichen Ebene wie dieses stehen, und bedarf der kontinuierlichen Pflege. So wie es mindestens jährlich pädagogische Tage gibt, muss es auch Sichere-Orte-Tage geben. Hier ist es empfehlenswert diese extern begleiten zu lassen. 
Freie Schulen berufen sich auf die weiten Ideen der Reformpädagogik, mit einem besonderen Schwerpunkt auf eine gleichberechtigte bzw. gleichwürdige Beziehungskultur. In jeder Beziehung findet Lernen statt und zum Lernen brauchen wir Beziehungen. Das ist eine der grundsätzlichen Ideen Freier Schulen. Auch hier gibt es strukturelles Machtgefälle, das Bewusstsein braucht und aus dem sich eine besondere Verantwortung für den Kinderschutz ergibt. 

Erwachsene sind hier aufgefordert mit einer hohen Sensibilität für körperliche Berührungen und Nähe zu arbeiten, denn auch kleinste (ungefragte) Berührungen, z.B. an der Schulter, können als Übergriff erlebt werden. Körperlichkeit ist als besonders vulnerabler Aspekt von Beziehung zu sehen, der Bewusstheit und Reflektion braucht. Die Konzepte müssen im Schulalltag als gelebt sichtbar und spürbar sein. 

Uns ist bewusst, dass das Thema nicht leicht ist und einer hohen Sensibilität bedarf. Teams und Gründungsinitiativen müssen bei der Bearbeitung immer auch im Blick haben, dass Menschen anwesend sein werden, die eigene Lebenserfahrungen mit dem Thema haben. 

Folgende Dilemmata begegnen uns immer wieder: 
Der Umgang mit dem Generalverdacht - insbesondere als männlich identifizierte Menschen die in pädagogischen Einrichtungen arbeiten, sehen sich schnell einem Generalverdacht ausgesetzt. Dabei kann ein Schutzkonzept dafür sorgen nicht nur Kinder und Jugendliche sondern eben auch Mitarbeitende zu schützen, wenn die Organisation darauf verweisen kann, wie das Schutzkonzept verankert ist und gelebt wird. 
Es gibt keinen 100% Schutz. Der Druck mit den Fehlern von anderen perfekt umzugehen ist im Fall der Fälle riesig und es kann viel zu schnell passieren, dass mit Übergriffen auf Übergriffe reagiert wird. Oder mit Übergriffen Übergriffe verhindert werden sollen.
In der Organisation “Schule” gibt es Grenzen der Bearbeitung für Übergriffsfälle - das heißt vor allem, dass dringend externe Begleitung nötig ist und die Verantwortlichen dafür uU auch Finanzen zur Verfügung stellen müssen. 
Therapeutische Aufarbeitungen können nicht in der Schule stattfinden.  

Die Wichtigste übergeordnete Frage bevor mit der Arbeit an einem Schutzkonzept begonnen werden kann ist:  Gibt es in unserer Organisation Bedarf an Aufarbeitung vergangener Fälle? 
Diese mögliche Aufarbeitung hat absoluten Vorrang vor allem anderen, denn wenn sie nicht ausreichend gemacht ist, wird der vergangene Fall im Laufe des Prozesses der Erarbeitung eines Konzeptes immer wieder auftauchen. Diese Aufarbeitung braucht externe Begleitung und muss für jede Organisation entwickelt werden. Hier können auch individuelle Bedarfe abgedeckt werden, sowohl in Einzelgesprächen also auch in Gesprächsrunden mit mehreren freiwillig Beteiligten, moderiert von Fachkräften. 
Es kann sinnvoll sein, anfangs mit der Recherche nach Personen und Beratungsstellen zu beginnen, um sich ein Netzwerk und externe Kooperationen aufzubauen. 

Der zweite Schritt: 
In allen Arbeitsbereichen der Organisation sollte eine Risiko- und Potentialanalyse durchgeführt werden, hierbei ist es wichtig sich systematisch den Fragen zu stellen, die nach Lücken im System suchen: 
Welche Strukturen, räumlichen Gegebenheiten, Situationen oder Gepflogenheiten bergen besondere Risiken für Formen von Gewalt, wie z.B. sexualisierte Gewalt und Mobbing?
Wie groß ist die Gefahr, dass ein*e Betroffene*r in dieser Organisation keine Hilfe findet oder gar nicht danach sucht?
Die unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs gibt auf ihrer Webseite dazu viele Hinweise1.
Im Vorfeld zu dieser Analyse nennt es die Unabhängige Beauftragte für unabdingbar, dass sich die Personen die sich in der Organisation mit der Risiko- und Potentialanalyse beschäftigen, intensiv mit den Fakten rund um das Thema auseinandersetzen, insbesondere auch mit den Strategien der Täter*innen2.

 
Das Schutzkonzept

Ein Schutzkonzept hat mehrere Ziele: 
  • eine sichere Umgebung zu gestalten, die vor Gewalt und Ausbeutung schützt
  • kompetente Unterstützung anzubieten und zu vermitteln
  • Verfahrenswege für Verdachtsklärungen aufzuzeigen.
Es umfasst verschiedene Bausteine die nicht unbedingt linear hintereinander weg erarbeitet werden sollten, sondern an unterschiedlichen Stellen der Organisation nacheinander entstehen können. 

Hier eine Übersicht:
  • Rahmen, Leitbild, Leitlinien
  • Personalverantwortung (Führungszeugnis/ Leitung)
  • Verhaltenskodex/Ampel
  • Prävention - Intervention
  • Thematisierung & Fortbildung für Mitarbeitende
  • Partizipation der Mitarbeitenden & Schutzbefohlenen
  • Informations- & Präventionsmaßnahmen (z.B. sexualpädagogische Angebote
  • Beschwerdeverfahren/Ansprechpersonen
  • Interventionsplan
  • Externe Kooperation & Vernetzung
Organisationen die ein Schutzkonzept erarbeiten wollen, um sowohl Schutzbefohlene als auch Mitarbeitende abzusichern, wird empfohlen schrittweise und bausteinhaft vorzugehen und sich bei Bedarf externe Begleitung zu holen. 
 



Übergriffe unter Kindern/Jugendlichen
Ein besonderes Thema in Bildungseinrichtungen sind in diesem Feld Übergriffe unter Kindern/Jugendlichen. Diese können schon im Kindergartenalter stattfinden und gehen weit über die so genannten Doktorspiele hinaus. Während sogenannte Doktorspiele aus kindlicher Neugier und Forschungsdrang entstehen und eben spielerisch und freiwillig sind, haben sexuelle Übergriffe unter Kindern/Jugendlichen vor allem folgende Kriterien:

  • Unfreiwilligkeit
  • Machtgefälle
  • Geheimhaltungsdruck
In solchen Fällen brauchen alle beteiligten Kinder/Jugendlichen professionelle Hilfe. Pädagogisches Fachpersonal muss geschult sein, hier professionell und achtsam zu agieren. Insbesondere die Arbeit mit den Eltern der betroffenen und übergriffig gewordenen Kindern/Jugendlichen ist hier wesentlich. 

Hintergründe und Fakten
Hier ist vor allem darauf hinzuweisen, dass wenn es sich um einen Verdacht handelt es wichtig ist, ein Konzept zur Verdachtsklärung unter Einbeziehung externer Fachkräfte zu haben. Den Aussagen von Kindern/Jugendlichen sind zuallererst zu glauben und dann weitere Schritte zur Erhellung des Vorgefallenen zu gehen und die Schwere des Verdachts entweder als Grenzverletzung, übergriffiges Verhalten oder Straftat einzuordnen. Falschbeschuldigungen von Kinder/Jugendliche gibt so gut wie nie, es ist also immer davon auszugehen, dass Kinder/Jugendliche sexualisierte Gewalt wirklich erlebt haben, wenn sie davon berichten. Dabei ist auch wichtig, auf Übergriffe unter Kindern und Jugendliche zu achten. 85-90% der Täter sind männlich identifiziert und 10-15% weiblich identifiziert3. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass es in Deutschland aktuelle eine Millionen Kinder und Jugendliche gibt, die sexualisierte Gewalt erlebt haben oder erleben. Das sind ein bis zwei Kinder/Jugendliche pro Schulklasse. Das Risiko für Menschen mit Behinderung ist noch größer4
Hierbei sind ausschließlich die strafrechtlich relevanten Handlungen (Sexueller Missbrauch) gemeint, grenzverletzendes Verhalten (einmalig und unbewusst) sowie übergriffiges Verhalten (bewusstes Ausnutzen von Macht) fließen in diese Statistiken nicht mit ein. 

Fragen mit denen Ihr beginnen könnt:
  • Welche Beratungsstellen kennt Ihr?
  • Welche weitere Vernetzung, auch in andere Schulen, habt ihr?
  • Welche sexualpädagogischen Angebote plant ihr?
  • Welche Interventionspläne habt Ihr?
  • Welche besonders enge Beziehungen - familiäre Beziehungen - Liebesbeziehungen zwischen Kolleg*innen, Jugendlichen… sind an Eurer Schule möglich?
  • Welchen strukturellen Rahmen für die regelmäßige Beschäftigung mit dem Thema haben ihr?
  • Wer geht wann auf welche Fortbildung zum Thema?
  • Wie oft gibt es gemeinsame Fortbildungen zum Thema?
  • Wie oft gibt es Elternabende zum Thema?
  • Wie oft gibt es Projektwochen für die Kinder/Jugendlichen?
  • Habt ihr eine insoweit erfahrene Fachkraft (ISEF nach § 8a SGB VIII) im Team oder seid in Kooperation mit einer Organisation die dies anbietet (z. B. Kinderschutzbund)?

Tools/Methoden

Perspektivwechsel üben
Mit externer Begleitung sich mit einem Fall beschäftigen der so oder so ähnlich in einer Schule hätte stattfinden können - z.B. um den Verdacht (!) dass ein Lehrer einer Schülerin emotional und körperlich zu nahe gekommen war.
Anhand von so genannten Bodenankern (z.B. Zettel auf dem Boden mit der Rollenbezeichung) können verschiedene Perspektiven der Beteiligten und Betroffenen eingenommen und ihnen jeweils eine Stimme zu gegeben. Figuren in der Übung können sein: Das Mädchen, ihre beste Freundin, ihre Eltern, die Lehrerin der sie sich anvertraut hat, der beschuldigte Lehrer, die Schulleitung, das Kollegium, die anderen Eltern, die anderen Schüler*innen und der Schulträger. Es ist sehr aufschlussreich, wie viele unterschiedliche Perspektiven und Ansichten in so einem Fall zusammen kommen und sich dann ja auch früher oder später Bahn brechen. Die Übung kann eher anstrengend sein und dennoch sehr erhellend, weil die Vielschichtigkeit und Komplexität des Problems so sichtbar wird, gegenüber dem Wunsch nach einer schnellen Lösung.
 

4 Siehe vorhergehende Quelle

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Entwicklung eines Sicherheitskonzeptes zum Schutz der Kinder vor sexuellen Übergriffen und der Mitarbeiter1 vor Falschverdächtigungen
(von Meta SELL und Fred KRÜGER / 2015)
 
1. Weshalb ist ein Sicherheitskonzept wichtig?
Sexueller Missbrauch2 an Kindern ist ein Thema, mit dem sich jeder Pädagoge auf höchst unterschiedlichen Ebenen auseinandersetzen muss: Er vermittelt Wissen über sexualkundliche Themen und die Prävention von sexuellem Missbrauch an Kinder, reagiert auf ihre Fragen und informiert auf Elternabenden die Erwachsenen zu diesem Thema.
Häufig ist er erster Ansprechpartner für betroffene Kinder, deren Angehörige oder Bezugspersonen.
Eine der schwierigsten Aufgaben entsteht, wenn der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs im Rahmen einer Institution im Raum steht. Institutionen können ungewollt optimale Tatgelegenheitsstrukturen bieten, weshalb sich Täter häufig auch gezielt für Tätigkeiten im pädagogischen Bereich entscheiden: Sie erhalten hier in der Regel leicht Vorinformationen über das potentielle Opfer und die dazugehörigen Familienstrukturen und können so gezielt ihre Taten, auch unter Ausnutzung von persönlichen Abhängigkeiten, vorbereiten. Besonders verletzliche oder besonders zugängliche Kinder können leicht identifiziert, Grenzen können langsam verschoben werden. Geheimnisse mit den Kindern werden aufgebautund mit Hilfe von Testsituationen kann das Entdeckungsrisiko für sexuelle Übergriffe abgeschätzt werden. Die Reaktionen potentiell schützender Personen werden beobachtet und innerhalb der Institution werden Abhängigkeiten geschaffen. Nach aufgedecktem sexuellem Missbrauch in Institutionen kommt es häufig zu Spaltungsprozessen im Team, so dass man auch von traumatisierten Organisationen sprechen kann.
Andererseits kommt es auch immer wieder zu Falschbeschuldigungen: Insbesondere bei sexueller Gewalt im engeren familiären Umfeld kann es passieren, dass Betroffene aus Angst in ersten Befragungen andere Personen aus ihrem sozialen Umfeld als Täter angeben. Insofern sind Menschen mit sozialen Kontakten zu Kindern, und damit auch Pädagogen, gefährdet, ihrerseits Opfer von schwer zu entkräftenden Vorwürfen zu werden. Zu Falschbeschuldigungen kann es ebenfalls kommen, wenn Pädagogen sich unreflektiert in missverstehbare Situationen begeben, in dem sie bestimmte Kinder besonders behandeln.
Jede pädagogische Institution sollte deshalb möglichst schon bei ihrer Gründung ein Sicherheitskonzept erarbeiten - zum Schutz der Kinder vor Grenzüberschreitungen, Gewalt und sexuellen Übergriffen und ebenso zum Schutz der Mitarbeiter vor Falschverdächtigungen.
Das gilt besonders für Freie Alternativschulen: Zu ihrem Selbstverständnis gehören intensive, verlässliche Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern als wichtige Voraussetzung für das Lernen. Es ist inzwischen bekannt, dass diese Nähe auch Risiken birgt, wenn sie nicht reflektiert und definiert ist oder wenn sie sogar – wie unter anderem im Beispiel der Odenwaldschule – ausgenutzt wird.
Freie Alternativschulen sollten deshalb mit einem Sicherheitskonzept – also mit einer klaren Positionierung gegen sexuelle Übergriffe, mit Regeln zum Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern sowie mit Festlegungen zu Strukturen und Verantwortlichkeiten – auch einem Generalverdacht entgegenwirken.
Neben dem Schutzeffekt hat ein solches Sicherheitskonzept im Übrigen auch die positive Wirkung, Ungerechtigkeitsempfinden weitgehend zu vermeiden, das durch Sonderbehandlung einiger Kinder bei anderen Kindern ausgelöst werden kann.
 
2. Wer trägt die Verantwortung für die Entwicklung des Sicherheitskonzeptes?
Das Sicherheitskonzept sollte Verbindlichkeit und arbeitsrechtliche Relevanz haben. Es muss deshalb von der Führungsebene der Schule (Träger, Vorstand, Arbeitgeber, Schulleitung) gewollt, vertreten, mitgestaltet und kontrolliert werden. Gleichzeitig muss es von den Schulmitarbeitern nachvollziehbar, mitgetragen und umsetzbar sein. Es sollte deshalb am besten von der Gründungsinitiative bzw. Mitarbeitern und Führungsebene gemeinsam oder zumindest im engen Austausch entwickelt werden.
Klar sollte sein: Die Entwicklung eines solchen Konzeptes ist kein schnelles Unterfangen, sondern bedarf einiger Zeit, Geduld und Arbeit – und ist nie ganz zu Ende. Es werden sich immer wieder neue Situationen ergeben, für die nachjustiert werden muss. Trotzdem empfiehlt es sich, ein Zeitlimit zu setzen, bis zu dem zumindest das Grundgerüst des Konzeptes entwickelt und auch schriftlich fixiert ist. Es gibt sonst erfahrungsgemäß genug Ausreden und Gegenkräfte, den Konzeptentwicklungsprozess im Alltag untergehen zu lassen.
Wichtig ist, dass sich das Konzept an den konkreten Verhältnissen in der Schule orientiert. Sicherheitskonzepte anderer Institutionen können als Anregung genutzt, sollten aber nie kopiert werden: Erstens sind Konzepte und Rahmenbedingungen verschiedener Institutionen nie ganz identisch. Zweitens fasst ein Konzept in der Einrichtung besser Fuß durch die eigene intensive Auseinandersetzung damit.
Idealerweise sollte der Konzeptentwicklungsprozess durch externe Fachleute oder Supervision begleitet werden. Die Auseinandersetzung mit dem Thema sexueller Missbrauch kann sonst leicht aus Scham, Abwehr oder eigener Betroffenheit an persönliche Grenzen der Beteiligten stoßen oder aus mangelnder Erfahrung und Gutgläubigkeit für die eigene Einrichtung als nicht relevant angesehen werden.
 
3. Leitlinien des Sicherheitskonzeptes
Zentral in Fällen sexuellen Missbrauchs sind der Aufbau von Geheimnissen, Abhängigkeiten und unklare Kommunikation. Demgegenüber ist die Transparenz der Entscheidungsprozesse, Verfahrensweisen, Rollen, Regeln und Handlungen ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einem sicheren Ort für Kinder.
Zur Transparenz gehört eine angemessene Kommunikationskultur. Angemessen meint, dass nach innen und außen Kommunikationsstrukturen geschaffen werden, die eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Thema Grenzüberschreitungen und einen hilfreichen Umgang mit Beschuldigungen erlauben. Nach innen bedeutet hierbei z.B., dass in der Schule – ohne dass der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs bereits im Raum steht – regelmäßig Gelegenheit geschaffen wird, auffallende Verhaltensweisen offen anzusprechen und zu reflektieren, bei Bedarf in einer Supervision.
Nach außen heißt z.B., schon im Vorfeld von Konflikten Kontakt zu spezialisierten Beratungsstellen aufzunehmen. Sie können als Unterstützer des Konzeptentwicklungsprozesses und als Vermittler von Fachwissen gewonnen werden. Ein zusätzlicher Effekt entsteht in der gegenseitigen Vertrauensbildung, so dass beim Auftreten von Handlungsunsicherheiten oder Beschuldigungen schnelle und effektive Hilfe zur Verfügung steht.
Transparenz und Kommunikation sind Schlüsselworte und -werte des Sicherheitskonzeptes: Sie sind sowohl Voraussetzung für seine Entwicklung als auch Bestandteil und Folge und sollten sich in konkreten Regelungen wiederfinden bzw. von diesen gefordert werden.
Der Sinn dieser Regelwerke ist es, klare Position zum Kinderschutz und gegen sexuelle Gewalt zu beziehen, zu dem Thema ins Gespräch zu kommen, das Bewusstsein für professionelle Nähe und Distanz zu schärfen, für Transparenz und Kommunikation im Arbeitsprozess zu sorgen, typischen Täterstrategien entgegenzuwirken und nicht zuletzt über eine Handhabe zur Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses bei Verstoß gegen die Regeln zu verfügen.
 
4. Welche Grundsätze sollten beim Festlegen von Regeln gelten?
Die konkrete Ausgestaltung des Regelwerkes wird immer davon abhängen, in welchen Kontext die Schule eingebunden ist: Wie ist die Trägerstruktur? Sind Eltern Gründer, Betreiber und Mitarbeiter der Schule? Welche behördlichen Vorgaben existieren? Welches Leitbild gibt es? Welche Kultur bezogen auf die Themen Körperlichkeit und Sexualität soll gepflegt werden? Eine Analyse der Organisation, die diese Fragen klärt, sollte Konzeptentwicklung und Regelformulierung vorangehen.
Diese Analyse sollte sich auch folgenden Fragen widmen: Sind unsere Strukturen besonders autoritär oder besonders diffus, deshalb förderlich für sexuelle Übergriffe und folglich dringend überholungsbedürftig? Tun sich durch unklare Rollen und Verantwortlichkeiten möglicherweise Sicherheitslücken auf, die geschlossen werden müssen? Autoritäre Strukturen können daran erkannt werden, dass Einzelne oder kleine Gruppen innerhalb einer Organisation ohne demokratisch legitimierten Auftrag Entscheidungen treffen und mögliche Diskussionen über diese Entscheidungen nicht zulassen. Sie nutzen ihre formelle oder informelle Macht, um kritische Fragen zu unterdrücken. Diffuse Strukturen können sich durch eine unklare Verteilung von Aufgaben, Kompetenzen und Rollen auszeichnen. Dies schafft Räume, sich unentbehrlich zu machen oder die Möglichkeit, je nach Situation und Notwendigkeit die Rolle zu wechseln.
Unabhängig davon gibt es aber allgemeine Grundsätze, die in jedem Fall bei der Regelfindung beachtet werden sollten:
 
Erwachsene tragen die Hauptverantwortung
Kinder dabei zu unterstützen, sich zu kritischen, gut informierten, starken Persönlichkeiten zu entwickeln, die sich gegen Grenzüberschreitungen jeglicher Art zur Wehr setzen können, ist eine wichtige Aufgabe pädagogischer Institutionen. Das entbindet aber die Erwachsenen nicht davon, selbst die Hauptverantwortung für den Schutz der Kinder zu übernehmen! Erwachsene haben einen Vorsprung an Erfahrung, Wissen und Macht, den sie – wenn sie es nur wollten – immer gegen Kinder einsetzen bzw. für ihre eigenen Interessen ausnutzen könnten. Ein Sicherheitskonzept muss deshalb zuerst am Verhalten der Erwachsenen und den Strukturen ihrer Institutionen ansetzen.
 
Regeln vorher setzen
Es kann ausgesprochen schwierig und belastend sein, Handlungen und Verhaltensweisen von Erwachsenen in pädagogischen Institutionen zu kritisieren und einzuschränken, die als grenzüberschreitend erlebt werden – umso mehr, je länger Ähnliches in der Institution schon praktiziert und toleriert wurde. Die Kritik wird dann oft von der Furcht gebremst, als „Generalverdacht“ missverstanden und mit Gegenvorwurf zurückgewiesen zu werden.
Institutionen sollten sich zwar immer der Möglichkeit der nachholenden Intervention bewusst sein. Trotzdem ist es vorzuziehen, klare Regeln zu setzen und Umgangsweisen zu vereinbaren, BEVOR der Vorwurf von Grenzüberschreitungen oder sexuellem Missbrauch im Raum steht. Die Regeln bilden fortan eine gute Basis für die weitere Kommunikation zum Thema und erleichtern die Reflexion von konkretem kritikwürdigem Verhalten.
 
Täterstrategien verhindern
Zu typischen Täterstrategien gehört es, Zuneigung und Abhängigkeit eines Kindes z.B. durch Geschenke, besondere Zuwendung und exklusive Verabredungen zu erreichen, die Wahrnehmung der Umgebung zu seiner Person zu vernebeln, die Beziehung zu dem Kind durch verbale und körperliche Desensibilisierung schleichend zu sexualisieren, das Kind zu isolieren und zu kontrollieren sowie mit Geheimhaltungsgeboten und Schuldzuweisungen an das Kind zu agieren.
Regeln sollten so beschaffen sein, dass sie Täterstrategien durchkreuzen oder zumindest erschweren. Zwar sind dann auch Handlungen von Verboten oder Einschränkungen betroffen, die von wohlmeinenden Erwachsenen unter anderem Vorzeichen geschehen würden. Gleichzeitig entfällt dadurch aber auch die Gefahr, dass diese Handlungen falsch gedeutet werden können. Das trägt zur Handlungssicherheit und zum Schutz der Erwachsenen bei.
 
Regeln differenziert und praktikabel gestalten
Vor der Regelgestaltung sollte geklärt werden, welche Erwachsenen in welchen Rollen in der Schule mit Kindern in Kontakt kommen. Meist betrifft das neben pädagogischen Mitarbeitern und Eltern weitere Erwachsene, wie Hausmeister, Sekretär, Honorarkräfte, Küchenmitarbeiter. Die Rollenklärung beinhaltet Funktionen, Zuständigkeiten, Unterstellungsverhältnisse und daraus resultierende Grenzen. Außerdem sollte identifiziert werden, wo es Rollendopplungen gibt (z.B. Vorstandsmitglied, Pädagoge und Elternteil), welche Konflikte sich daraus ergeben könnten und wie damit umgegangen werden kann.
Es empfiehlt sich, für die verschiedenen Personengruppen unterschiedliche Regeln zu entwickeln, die jeweils ihren Rollen und Aufgaben angepasst sind: Für einen technischen Mitarbeiter z.B., zu dessen Auftrag eindeutig nicht die pädagogische Arbeit gehört, kann das einschließlich der daraus resultierenden größeren Distanz zu den Kindern ganz deutlich vereinbart werden. Das hilft ihm, sich gegen Kinderwünsche abzugrenzen, und verhindert unklare Situationen. Für Eltern werden wieder andere Regelungen sinnvoll sein. Die allgemeine Frage könnte lauten: Wer darf was mit wem und wie soll das in den Regeln verankert sein?
Am schwierigsten ist diese Frage für die Pädagogen zu beantworten, zu deren wichtigsten Aufgaben es gehört, enge Beziehungen zu den Kindern aufzubauen. Schutz kann hier folglich nur bedingt durch Distanz erreicht werden. In erster Linie muss die konzeptionell gewünschte Nähe schützend gestaltet sein – vor allem durch Transparenz und Kommunikation des pädagogischen Handelns!
Besonderes Augenmerk sollte dabei auf Kontakten und Aktionen liegen, bei denen ein Pädagoge mit einem Kind allein ist oder die außerhalb der Schule und des verabredeten pädagogischen Alltags stattfinden – Situationen, in denen am leichtesten unentdeckte Grenzüberschreitungen möglich sind.
Die Regelgestaltung muss sich am Kontext orientieren, um nicht lebensfremd zu sein:
In Schulen z.B., die von Eltern für ihre Kinder gegründet werden und in denen sie auch Mitarbeiter sind, wird es nahezu unvermeidbar eine enge Verquickung von Privatem und Dienstlichem geben. Wie kann trotzdem Sicherheit geschaffen und verhindert werden, dass diese Nähe ausgenutzt wird?
In Schulen ohne diese Rollenüberschneidung können und sollten striktere Regeln zur Trennung von Privatem und Dienstlichem etabliert werden, um bestimmte Konflikte von vorn herein zu vermeiden bzw. zu minimieren.
Generell ist es sinnvoll, missverstehbare oder potentiell gefährliche Situationen zu identifizieren – bei Bedarf mit Unterstützung durch einen Experten – und sich über den Umgang damit zu verständigen. Bestimmte Kontakte von Erwachsenen mit Kindern, z. B. die Einladung von Schulkindern in Mitarbeiterwohnungen, könnten generell unter Verbot gestellt werden. Was nicht unterbunden werden soll oder kann oder sich in einer Grauzone befindet, sollte möglichst vorher im Team abgestimmt und in jedem Fall mit einer Transparenzauflage (Mitteilungspflicht) verbunden sein!
 
Sanktionen festlegen
Verstöße gegen die Regeln sollten mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen bis hin zu Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses und Hausverbot geahndet werden. Das muss im Regelwerk klar kommuniziert werden.
Dringend zu empfehlen ist eine Regel, von den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern neben dem erweiterten polizeilichen Führungszeugnis auch eine Selbstauskunft zu laufenden Verfahren oder verjährten Vorstrafen zu verlangen, soweit sie die Gefährdung des Kindeswohls betreffen, und Falschaussagen mit der sofortigen Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses zu sanktionieren.
 
Juristische Prüfung
Sinnvoll ist es, die Regeln in einem Zusatzpapier zum Arbeitsvertrag zu fassen und vom Mitarbeiter unterzeichnen zu lassen. Damit dieses Papier auch ggf. bei arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen Bestand hat, ist eine juristische Prüfung anzuraten!
 
5. Was ist sonst noch wichtig?
 Sicherheitskonzept veröffentlichen
Über das Sicherheitskonzept mit seinen Maßnahmen und verbindlichen Regeln sollten alle an der Schule Interessierten und Beteiligten informiert werden: Über die Internetseite, in Aufnahmegesprächen und auf Elternabenden, in Kontakten mit den zuständigen Behörden, in der Schulversammlung, in Gesprächen mit den Kindern, durch Aushänge in der Schule.
Alle sollten die Maßstäbe kennen, an denen sich die Schule messen lassen will und an denen sie dann auch gemessen werden kann – von Erwachsnen wie Kindern!
Gleichzeitig ist es wichtig, zu klären und darüber zu informieren, wo und wie Beschwerden über nicht eingehaltene Maßstäbe und Regeln eingebracht werden können (Schulgericht, Kontakt mit Vertrauenspersonen der Kinder im Schulteam, Sorgenbriefkasten, Schulversammlung, Morgenkreis …) und wie sie bearbeitet werden.
 
Verfahren für Umgang mit Verdacht
Ein im Vorfeld entwickeltes Verfahren zum Umgang mit Beschuldigungen hilft allen Beteiligten, professionell mit einer schwierigen Situation umzugehen.
Im Verfahren sollte festgelegt sein: Wer (Team, Leitung, Vorstand…) redet wann mit wem? Wie werden Beobachtungen und Gespräche dokumentiert? Welche Hilfe von außen (Beratungsstellen, Prozesskoordinator…) ist für die verschiedenen Beteiligten nötig und möglich? Wer (Eltern, Fachaufsicht…) muss ggf. über die Vorfälle informiert werden?
Die Offenheit in der Kommunikation endet im Falle von Beschuldigungen an den Persönlichkeitsrechten der Beteiligten. Selbstverständlich benötigen Betroffene Schutz, so dass außerhalb des mit der Beschuldigung professionell befassten Personenkreises keine Informationen über den Namen und die vorgenommenen Handlungen in die Öffentlichkeit gelangen sollten. Gleiches gilt für die Rechte des Beschuldigten, denn ein solcher Vorwurf würde selbst bei einer erwiesenen Falschbeschuldigung als Makel an der Person hängen bleiben. Letztlich sind öffentliche Diskussionen für alle belastend und können eine objektive Abklärung der Beschuldigung massiv behindern.
 
Regelmäßige Reflexion, Auffrischung und Aktualisierung
Erfahrungsgemäß ist es nicht genug, ein Sicherheitskonzept ein für allemal zu entwickeln und bei Abschluss des Arbeitsvertrages ein zusätzliches Regelwerk zu unterschreiben. Vereinbarungen geraten in Vergessenheit, Bedingungen ändern sich, neue Anforderungen kommen hinzu.
Deshalb sollte die Überprüfung und Aktualisierung des Sicherheitskonzeptes sowie die Kontrolle seiner Einhaltung regelmäßig auf der Tagesordnung stehen, bei Bedarf und zu erwartender Konfliktträchtigkeit mit Hilfe von Supervision.
Wichtig ist ebenfalls, sich für alle haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter immer wieder Input durch externe Fachleute – z.B. aus Beratungsstellen – einzuholen und dabei vor allem an den Fortbildungsbedarf neuer Mitarbeiter zu denken.
 
Prävention, Umgang mit sexuellen Übergriffen unter Kindern
Neben den Maßnahmen und Vereinbarungen, die vor allem für die Erwachsenen gelten, sollte das Sicherheitskonzept um Bestandteile erweitert werden, die sich direkt an die Kinder wenden. Das können z.B. durch externe Fachleute geleitete Präventionsworkshops sein, die Themen wie „Mein Körper gehört mir“ oder „Gute und schlechte Geheimnisse“ behandeln und den Kindern ein Handlungsinstrumentarium gegen Grenzverletzungen vermitteln, ohne sie dadurch unter Druck zu setzen und in Schuld zu verstricken, wenn sie es nicht anwenden.
Wichtig ist außerdem die Auseinandersetzung der Mitarbeiter mit dem Thema der sexuellen Übergriffe unter Kindern. Es empfiehlt sich dringend, im Vorfeld fachlichen Rat einzuholen, wie ihnen vorgebeugt werden kann bzw. wie mit solchen Vorfällen professionell umgegangen wird und wie ihre Aufarbeitung mit Kindern und Eltern erfolgt.
 
Zusammenfassend sei gesagt: Eine totale Sicherheitsgarantie gibt es nie. Wichtig ist aber, in der Schule ein Klima zu schaffen, in dem eine Bewusstheit für die Dimension des Themas und für die Verantwortung jedes Einzelnen existiert. Die Grundhaltung sollte nicht sein: Wie kann ich Lücken des Sicherheitskonzeptes aufspüren und für mich nutzen? Sondern: Wie kann ich sich offenbarende Lücken im System im Sinne des Kinder- und Mitarbeiterschutzes schließen helfen?!
 
Den Text gibt es auch als pdf Datei zum runter laden: http://www.freie-alternativschulen.de/attachments/article/897/Sichere%20Orte.pdf
 

1 Bei allen Bezeichnungen, die sich auf Personen beziehen, bezeichnet die gewählte Formulierung alle Geschlechter, auch wenn aus Gründen der leichteren Lesbarkeit die männliche Form verwendet wird.

2 Von anderen Autoren werden synonym die Begriffe sexuelle Gewalt, sexualisierte Gewalt oder sexuelle Ausbeutung benutzt.

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Reformpädagogische Einfallstore für sexuellen Missbrauch (Beispiel Odenwaldschule)1
(aus Matthias HOFMANN: Geschichte und Gegenwart Freier Alternativschulen. Eine Einführung.
Ulm 2013: Verlag Klemm+Oelschläger, 1. Aufl. S. 84-90 / 2. Aufl. S. 87-94)
Der Text steht auch zum Download bereit.
 
Es geht in diesem Kapitel nicht darum sexuellen Missbrauch in Institutionen zu beschreiben.2 Hier wird ein Versuch unternommen einen Zusammenhang zwischen reformpädagogischen Konzeptionen, reformpädagogischen Persönlichkeiten und den Möglichkeiten zu sexuellem Missbrauch aufzuzeigen. Wenn konzeptionelle Unklarheit (im Sinne von Abgrenzung gegenüber Begriffen wie bspw. dem ‚pädagogischen Eros’) oder gar Offenheit (für eine wie auch immer deklarierte körperliche und/oder sexualisierte Nähe im pädagogischen Verhältnis) mit einer pädophilen Neigung bei PädagogInnen zusammenwirken, dann begünstigt das zweifelsohne die Möglichkeiten von Pädophilen ihre Neigungen auszuleben.
Bei der Recherche zu diesem Kapitel stellte ich mir die Frage, ob es mehr als einen 'herbeigeredeten' besonderen Bezug zwischen Landerziehungsheimen im Allgemeinen als Teil der reformpädagogischen Landschaft, der 'Freien Schulgemeinde Wickersdorf (FSG)' im Besonderen und Freien Alternativschulen gibt.
Das Archiv der deutschen Jugendbewegung hat anlässlich des 100 Jahrestages der Gründung der FSG3 eine umfassende Sammlung von Beiträgen unter der Federführung von Hartmut Alphei4 und Ulrich Herrmann herausgegeben.5 In einem Beitrag heißt es zum Zusammenhang mit den Alternativschulen: „[...]und Florian Conrad-Roesner […] Leiter der Freien Schule Untertaunus – geben Einblicke in Schule von heute […]. Beide (und viele andere) sind – gewollt oder ungewollt – der „Idee“ des Gustav Wyneken verpflichtet [...]“6 Es gibt sicherlich eine Reihe von pädagogischen Elementen, die u.a. auch bei Wyneken zu finden sind (beispielsweise der Ausflug) und auch zum Alltag an Freien Alternativschulen gehören. Wer sich allerdings explizit auf Wyneken bezieht wie hier geschehen, der sollte sich meines Erachtens auch dessen pädophilen Seiten widmen.7
Im Jahr 2010 kamen die Missbrauchsvorwürfe gegen LehrerInnen an der Odenwaldschule endgültig ans Licht. 1999 konnte man in der Frankfurter Rundschau darüber lesen. Folgen hatte diese erste Information der Öffentlichkeit damals nicht.
In einem Buch über alternative und ‚reformpädagogische’ Schulversuche darf ein solches Kapitel nicht fehlen, weil es aufmerksam macht. Es macht aufmerksam auf die konzeptionellen Gefahren (Nähe in einer pädagogischen Beziehung, Schulfahrten usw.) und auf einen eindeutigen Bedarf an Abgrenzung und Klarheit. Spätestens seit dem bekannt wurde, dass in der Odenwaldschule seriell und über Jahrzehnte8 hinweg Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht wurden, muss man sich dem Thema im alternativpädagogischem Bereich stellen und einen kritischen Umgang mit dem ‚kleinen Heiligtum’ der ‚Reformpädagogik’ und ihrem temporären ‚Flaggschiff Odenwaldschule’ finden.
Jürgen Oelkers weißt zu recht darauf hin, dass es neben einem kritischen Diskurs zu Begriffen wie dem 'pädagogischen Eros' auch grundsätzlich um Formen von Herrschaft im reformpädagogischen Kontext geht.9
 
Die Gründerväter
Gustav Wyneken gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Landerziehungsheimbewegung. Wyneken lebte vor mehr als hundert Jahren mit Kindern und Jugendlichen in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf zusammen. Ähnlich wie Internatsfamilien an der Odenwaldschule funktioniert hier die Kameradschaft. Als zentrale Aufgabe dieser Kameradschaft benannte Wyneken, dass sie der zentrale Ort für den pädagogischen Eros sei.10 Wyneken baut enge Beziehungen mit den Jungen auf, missbraucht sie sexuell und begründet das mit dem pädagogischen Konzept des ‚Eros’. Für die Jungen sei das eine tiefe und bereichernde Erfahrung. Er bezog sich auf Textstellen bei Goethe bzw. Nietzsche11 und argumentierte, dass diese Praxis nicht seiner Triebabfuhr dienen würde. Er sprach von einer ‚ernsten und heiligen Atmosphäre’. Man bedenke: Wyneken genoss in ‚reformpädagogischen’ Kreisen und der in der Jugendbewegung seiner Zeit hohes Ansehen.
Gustav Wyneken hatte Wegbegleiter, darunter auch Paul Geheeb12, der mit ihm gemeinsam die Freie Schulgemeinde Wickersdorf leitete. Später (1910) gründete Geheeb die Odenwaldschule. „[Sie] teilten viele Vorstellungen. Ihnen ging es um die Pflege und Ausbildung des Körpers und die Erziehung der Schüler zur Selbsttätigkeit im Lernen. Sie sahen ihre Zöglinge als absolut gleichberechtigte Personen an. Das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern sollte freundschaftlich eng sein. Gerold Becker stellte sich, als er 1972 die Schule übernahm, ganz in diese Tradition. Er erhob die nahe Beziehung zwischen Schülern und Lehrern zum zentralen pädagogischen Instrument.“13
 
Der pädagogische Eros
Das Konzept des pädagogischen Eros14 hat Tradidtion und ist unterschiedlich interpretiert worden. In Athen vor 2500 Jahren war es anerkannt, dass es sexuelle Beziehungen zwischen Männern und Jungen gab.15 Im reformpädagogischen wie auch im geisteswissenschaftlichen Diskurs wurde und wird oft Bezug auf die ‚vorplatonische Epoche’ genommen. Hartmut von Hentig, der vielleicht populärste ‚Reformpädagoge’ unserer Zeit vertritt dieses Konzept.16 2010 hielt er eine Festrede in Stuttgart. „Jeder Erzieher solle etwas von pädagogischer Liebe in sich tragen – auch als „eine Form der ‚persönlichen Liebe’“ sagte Hentig.“17 Sein Verständnis vom pädagogischen Eros ist keines, das direkt mit der sexuellen Triebabfuhr arbeitet. Der Erosbegriff bei von Hentig ist eine Triebkraft auf dem Weg zu mehr Erkenntnis. Das dieser Gedanke auch für Pädophile anschlussfähig ist, da sie die Verbindung von Eros, Triebkraft und Pädagogik in ihren Diskurs integrieren, ist nachvollziehbar.
Pädagogik findet stets im Spannungsfeld von Nähe und Distanz statt. Es ist die Aufgabe der PädagogInnen die Grenzen zu wahren und die Aufgabe aller beteiligter Erwachsener ist es, Strukturen zu schaffen, die Missbrauch jeder Art verhindern. Das Konzept des pädagogischen Eros ist hierfür gänzlich ungeeignet. Es ist als pädagogisches Konzept auch nicht notwendig um eine weniger distanzierte, gleichwürdige Beziehung zwischen SchülerInnen und LehrerInnen zu beschreiben (siehe das Kapitel Jesper Juul).
Vor diesem Hintergrund kommt C. Füller in seinem Buch ‚Sündenfall’ zu dem Schluss, dass nicht einzelne Lehrer die Internatsfamilien in der Odenwaldschule als Ort missbraucht hätten um ihren pädophilen Neigungen nachzukommen. Sie haben die ‚Familien’ ihrem eigentlichen, schon von Wyneken proklamierten Zweck zugeführt.18 Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass alle LehrerInnen in Internatsfamilien missbräuchlich gehandelt hätten. Aber es verweist auf die Konzeption der 'Familie' als ein konzeptionelles Einfallstor. Solche Tore müssen benannt und analysiert werden, damit sie nach Möglichkeit 'bewacht' und 'geschlossen' werden können.
Schulen reformpädagogischer Prägung und Alternativschulen bilden Gesellschaft ab und müssen sich somit auch den unangenehmen Seiten des Lebens stellen. Ein: „Bei uns kann so etwas doch gar nicht passieren!“ ist ein Fehler. Eine solche Haltung macht unaufmerksam und entspricht nicht immer der Realität.
Gerade wenn im Kontext der Pädagogik in Freien Alternativschule von einer anderen und besonderen Nähe in der Beziehung zwischen LehrerInnen und SchülerInnen (im Vergleich zur öffentlichen Schule) gesprochen wird, darf auf eine trennscharfe und kritische Auseinandersetzung mit den hier beschriebenen 'Einfallstoren' nicht verzichtet werden.
 
Internat
Die OSO wurde in der Tradition der Landerziehungsheime als Schule mit Internat gegründet. Die Kinder und Jugendlichen leben in sogenannten Familien gemeinsam mit ihren LehrerInnen. „Die Schule ist mehr als eine Schülerdemokratie und sie ist zugleich mehr als eine Schule. Die OSO fußt auf der Idee, das Leben ihrer Schüler auch außerhalb des Unterrichts zu gestalten. Daher ist die Odenwaldschule ein Internat.“19
In der OSO betreuten LehrerInnen besagte ‚Familien’. Hier wohnten sie gemeinsam mit den SchülerInnen. So auch Becker und Herder. „Die beiden Pädophilen waren grundverschieden in ihrer Art. Oben der unansehnliche, zurückgezogene Mann, unten der eloquente Schulleiter und Menschenversteher.“20 21
An der OSO fehlte es an LehrerInnen, die als VertrauenslehrerInnen oder Heimleitung die Machenschaften ihrer KollegInnen hätten kontrollieren können.22
 
Gerold Becker
G. Becker galt als eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der bundesdeutschen Bildungslandschaft. Er kam aus der Jugendarbeit. „Becker suchte Anfang der 1960er Jahre sogar den pädophilen Ideengeber der reformpädagogischen Bewegung, Gustav Wyneken, in Göttingen auf. Gerold Becker lebte die Ideen einer pädophilen und politischen Jugendkultur.“23 Er übernahm die Leitung der OSO. Unter seiner Leitung zog das libertäre Klima der „68er“ in der Odenwaldschule ein. Diese Öffnung, mehr Freiheiten, Alkohol, Kiffen, freie Sexualität... „Das war der Hintergrund, vor dem die libertären Lehrer nicht merkten, dass sie einer neuen Ideologie aufsaßen. Während sie von Freiheit träumten, entstand in der Wagenburg Odenwaldschule eine Art totaler Institution. An ihrer Spitze stand ein charismatischer Führer, bei dem sich herausstellen sollte, dass er freie Liebe predigte, aber Sex auch erzwang.“24
Becker ging mit seinen pädophilen Neigungen bzw. mit seiner Sexualität nicht dezent um. Er besprach sexuelle Fragen oft öffentlich. „Es war eines der Motive, die er nicht selten in pädagogischen Reden vertrat: sich und seine Sexualität ernst zu nehmen. Diesmal [in einer Rede vor Hunderten von Gästen; M.H.] drückte es Becker so aus: ‚Dass der Einzelne sich mit seiner Triebwelt geradezu befreunden muss, wenn sein Ich nicht durch die Angriffe aus dem Hinterhalt des Verdrängens ständig gefährdet sein soll.’“25 In die oben beschriebene scheinbar freiheitliche Atmosphäre mischte sich das Thema Sexualität. Die Trennschärfe zu Pädophilie fehlte. Becker und sein Kreis nutzten diese Atmosphäre auf ihre eigene Art. „Die Odenwaldschule ist seit Ende der 1960er Jahre schrittweise unter den Einfluss einer Gruppe pädophiler Lehrer gekommen. [...] Die Frage ist: Hat sie die Besonderheit der Reformpädagogik genutzt? Welche Rolle spielen reformpädagogische Versatzstücke wie die Nähe zum Kind, die Abgeschlossenheit der Internatsfamilien oder die pädagogisch inspirierten Ausflüge?“26
Becker schreibt 1971 über verbesserte Möglichkeiten für Kinder, wenn man ihnen Möglichkeiten zum sozialen Lernen gibt. „Es ist auch eine Schrift voller Sex. ‚Die mich beglückende und die den anderen beglückende Funktion der Sexualität ist unter Konsumzwängen zumindest ebenso (vielleicht noch mehr) gefährdet wie unter Tabus’, schrieb Becker. ‚Das Individuum mit seiner eigenen Triebwelt ... zu befreunden bleibt eine der immer wieder zu lösenden zentralen Aufgaben.’ [...] ‚Bestimmt man das Lernziel ‚Freude am eigenen Körper haben, die eigene Sexualität zu bejahen und genießen’, wird unmittelbar deutlich, dass die Erreichung dieses Ziels außerordentlich erschwert wird, wenn das kleine Kind in einer Atmosphäre der Leibfeindlichkeit.... aufwächst.’ “27
 
Schulstruktur
Das ‚System Becker’ funktionierte so lange, wie Becker als Internatsleiter jedes Korrektiv innerhalb der Schulorganisation verhinderte. „Die Schule bestand vor Gerold Becker aus zwei Polen, die sich gegenseitig kontrollierten, aber auch inspirierten: der Konferenz und dem Schulleiter. Kurze Zeit nach Beckers Amtsantritt waren beide Pole der Schule verschwunden. Die Konferenz war entmachtet und der Schulleiterposten praktisch verwaist.“28 In der Konsequenz heißt das, dass jede Institution, in der Kinder und Jugendliche begleitet werden, ihre Strukturen dahingehend überprüfen muss, ob sie über einander kontrollierende Kräfte verfügt.
Aber nicht nur Becker und ein kleiner Kreis lebten ihre Neigungen aus. „Der Kreis jener Lehrer, die die Schule als ihr sexuelles Revier betrachten, geht aber weit über die Gruppe der Pädosexuellen hinaus.“29 Ein Nachteil, der aus der reformpädagogischen Konzeption der OSO entstanden ist, ist der Umstand, dass die LehrerInnen- oder ErzieherInnenrolle nicht klar definiert war. „Ein Lehrer muss beinahe 24 Stunden im Einsatz sein, wenn er zugleich der Lehrer, der Aushilfsvater und der Erzieher seiner Schüler sein soll.“30 Das führt dazu, dass PädagogInnen so beschäftigt sind, dass sie weder ihren KollegInnen über die Schulter schauen können noch dass sie Zeit haben ihr Verhalten zu reflektieren. Das soll nicht entschuldigen, denn auch unter diesen Umständen haben es LehrerInnen in der OSO geschafft, eine gute Arbeit zu leisten. Aber es verdeutlicht, dass es gefährlich ist, wenn die LehrerInnenrolle sich mit Privatem vermischt. Das war aber ursprünglich die reformpädagogische Absicht: „Wenn Bildung nicht nur die Vermittlung von Wissen sein soll, sondern ein ganzheitlicher Prozess, dann braucht es die Einheit von Leben und Lernen. So dachten es die Gründerväter der Landerziehungsheime, allen voran die bekanntesten unter ihnen, Hermann Lietz, Paul Geheeb oder Gustav Wyneken.“31
 
Zusammenhang mit Alternativschulen
Aus dem Zeitgeist der ‚68er Bewegung' heraus wurden auch die ersten Freien Alternativschulen gegründet. Ende der 1970er Jahre erscheint ein Buch von Lutz van Dick mit dem Titel: „alternativschulen. information- probleme- erfahrungen“32. Auch hier finden sich Textstellen, die auf Pädophile einladend wirken können. Im Kapitel 4a (Beispiele aus dem Erfahrungsbereich: Sexualität und Zärtlichkeit in der Schule) zitiert van Dick zunächst Reinhart Lempp (Professor für Kinderpsychatrie) mit den Worten „Es ist nicht die Erwachsenensexualität, die das Kind bedroht, sondern es ist die Erwachsenengewalt, vor der das Kind geschützt werden muß.“33 Van Dick konstruiert einen relativierenden Vergleich von Gewalt gegen Kinder und Sexualdelikten an Kindern. Er kommt zu dem Schluss: „Nun, auch in der Schule darf (auch vom Lehrer) eher geschlagen werden, als dass ein Kind mal gestreichelt oder in den Arm genommen wird.“34 Weiter führt er aus, dass man von Kindern lernen könne, dass Sexualität mehr sei, als „[...] nur Gut und Böse, mehr als Geschlechtsverkehr für Erwachsene und ein Nichts für Kinder.“35 Lutz van Dick erklärt dann selbst, worum es ihm geht. „Worum es mir geht, ist nicht, einen Traum von absoluter freier, offener, ungezwungener Sexualität zwischen Erwachsenen, Kindern sowie Kindern und Erwachsenen neu zu träumen (wie während der Studentenbewegung vor ein paar Jahren), sondern die Humanisierung unseres oft brutalen (Schul-)Alltags voranzutreiben. Dabei geht es am wenigsten um frei ausgelebte Sexualität (wie soll das auch bei einer dermaßen gefühlskalten Umwelt gehen?), sondern um das Wahrnehmen von einfachen Gefühlen wie Freude, Traurigkeit, Zuneigung, Ablehnung usw., um ein Anfassen- und Streichelnkönnen; um das Zeit haben für Gespräche, für ein ‚auf dem Schoß sitzen’, für ein Zuhören (auch gerade des Lehrers den Kindern!); um das Ernstnehmen von großen und kleinen Sorgen usw. Kurz: um das Aufbauen einer Atmosphäre, in der Voraussetzungen für Liebe erst einmal wieder geschaffen werden [...].“36 Man kann sich vorstellen, wie einladend diese Forderungen auf Pädophile wirken: Auf dem Schoß sitzen, zuhören und Verständnis haben, eine Atmosphäre für ‚Liebe’ aufbauen und anfassen und streicheln können.
Vermutlich kennen die wenigsten AktivistInnen in der Alternativschulszene das Buch von Lutz van Dick oder gar das konkrete Zitat wirklich.37 In den Büchern und Artikeln zum Thema 'Alternativschulen' ist es eines der am meisten zitierten Bücher.
Das Wissen um dieses Einfallstor kann sensibilisieren und sollte bei den Diskussionen um die Grenzen zwischen LehrerInnen und SchülerInnen oder in den Diskurs um die ‚Nähe zum Kind’ mit einbezogen werden. Wenn man völlig zu recht davon ausgeht, dass es kein Lernen ohne Beziehung und keine Beziehung ohne Lernen gibt38, dann ist es unumgänglich diese Beziehung zu definieren und ihre Grenzen unmissverständlich aufzuzeigen.
C. Füller fasst in Bezug auf die Odenwaldschule zusammen: „Die Idee der Nähe zum Kind, des Lernens und Lehrens auf Augenhöhe, die erlebnispädagogischen Ausflüge und die Strukturen der Internatsfamilien waren beides für Pädosexuelle: ein idealer Instrumentenkasten, um eine übergriffige Nähe zu Kindern und Jugendlichen herzustellen. Und zugleich eine perfekt harmlose Tarnung für teilweise brutale Übergriffe auf Schüler.“39
Christian Füller zieht ein differenziertes Fazit: „Weder die Odenwaldschule noch die Reformpädagogik hatten das Ziel, Kinder zu missbrauchen. Das ist Unsinn und das behauptet auch niemand. Aber sie geben eine ideale tarnende Umgebung für pädophile Straftäter ab. Und bilden eine Schar von positiv gestimmten Mitgliedern, die aus vollster Überzeugung den Angriff auf ihre Lehrer abwehren – gegen die Betroffenen.“40
Bei der Recherche zu diesem Kapitel traf ich auf ein Buch, dass es sich zum Ziel gesetzt hat, Schutzräume für Kinder vor sexuellem Missbrauch zu thematisieren. Es trägt den Titel ‚Sichere Orte für Kinder’41 und bezieht sich auf offene Freizeiteinrichtungen. Es könnte als Ausgangspunkt für eine weiter gehende Auseinandersetzung mit der Thematik dienen.



1 Die Überschrift dieses Kapitels ist an den Titel eines Workshops auf dem BFAS Bundestreffen 2011 mit Christian Füller angelehnt (Konzeptionelle Einfallstore für sexuellen Mißbrauch).

2 Konkrete Erfahrungen von SchülerInnen der Odenwaldschule finden sich u.a. in dem Buch ‚Sündenfall’ von Christian Füller bzw. in dem Buch ‚Wie laut soll ich denn noch schreien?’ von Jürgen Dehmers.

3 FSG: Freie Schulgemeinde Wickersdorf

4 Hartmut Alphei (geb 1940) war Mitarbeiter von von Hentig, Lehrer an der Odenwaldschule und ist Mitbegründer der Freien Schule Lindau. Von der VW Stiftung finanziert hat er das Archiv der Odenwaldschule erschlossen und bearbeitet (Ergebnispräsentation im Oktober 2004). Kaum jemand dürfte so umfangreiche Kenntnisse über das Archiv der Odenwaldschule haben und zugleich über historisch fundierte Kenntnisse zu Gustav Wyneken verfügen wie H. Alphei. Er stellt die Freien Alternativschulen in einen Zusammenhang mit der FSG: “Sie [die Reformpädagogik; M.H.] propagiert die Erziehung vom Kinde aus und fordert das Recht auf einen Freiraum für die heranwachsende Jugend. Wo könnte man das besser studieren als bei Gustav Wyneken, und wo wurde diese Grundhaltung überzeugender gelebt als in Wickersdorf?! Glücklicherweise gibt es auch heute eine zunehmend beachtete Gegenbewegung gegen die Vergreisung der öffentlichen Schule. Das sind die Freien Alternativschulen. Ihre Zahl wächst, und die Öffentlichkeit nimmt sie mittlerweile wahr." Alphei in: Stiftung Jugendburg Ludwigstein 2007; S.284. Alphei schreibt ein 16 seitiges Kapitel mit 46 Fussnoten zum 100jährigen Jubileeum der FSG Wickersdorf, in dem Wyneken und seine FSG zum 'Kult' und 'Kultort' stillisiert werden, ohne eine einzige kritische Andeutung zum Missbrauch Wynekens an Schülern oder seinem Engagement für die 'Knabenliebe' zu verlieren.

5 STIFTUNG JUGENDBURG LUDWIGSTEIN UND ARCHIV DER DEUTSCHEN JUGENDBEWEGUNG (Hrsg.): Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung. Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf.; Schwalbach/Taunus 2007

6 ALPHEI/HERRMANN in: Stiftung Jugendburg Ludwigstein 2007; S.20

7 In seinem Beitrag 'Theorie und Praxis der Freien Alternativschulen als neuer reformpädagogischer Bewegung' anlässlich der Würdigung von Wyneken nimmt F. Conrad-Roesner Bezug auf die pädagogischen Überzeugungen Wynekens als Grundlage für die Konzeptionen Freier Alternativschulen. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem verurteilten Pädophilen und Propagandisten einer 'Knabenliebe' im pädagogischen Kontext Gustav Wynekens lässt der Beitrag vermissen.

8 „Übergriffe auf Kinder fanden laut Untersuchungsbericht von Burgsmüller und Tilmann an der Odenwaldschule seit dem Jahr 1965 statt. Jeweils 1970 und 1973 stieg die Zahl der notierten Betroffenen stark an. Laut den Berichten der betroffenen Schüler ist Gerold Becker jene Person, die am häufigsten mit sexueller Gewalt in Verbindung gebracht wird.“ FÜLLER, C.: Sündenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte. Köln 2011; S.225

9 OELKERS, J.: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. Weinheim und München 2011

10 Vgl.: FÜLLER 2011; S.132

11 Auch wenn Nietzsche nicht unumstritten ist: er bezog den Erosbegriff seiner Zeit nur auf erwachsene Frauen. „Man soll, um vom Eros nicht ganz unterjocht zu werden, sich mit den weniger schönen Weibern einlassen.“ In: Nietzsche Register, Stuttgart 1943; S.104. Zitiert aus: Die Unschuld des Werdens (Nachlaß 1); S.290. Bei J. Oelkers heißt es: „Nietzsche war nicht, wie die vielen zeitgenössischen ‚Bewegungen’ an der Erneuerung, sondern an der Abschaffung der Moral interessiert, weil er in jeder Form von Moral nur eine Herrschaftsattitüde sehen konnte. [...] Das ist zu radikal für jede Version von Reformpädagogik.“ OELKERS 2005; S.89.

12 „Geheebs Begehren kannte keine Grenze. Klaus Mann etwa beschrieb ihn als einen älteren lüsternen Herrn, der sich schamlos an Schülerinnen heranmachte. ‚Die nahen Beziehungen Geheebs’, sagt auch Biograf Martin Näf,’hatten oft etwas, was wir heute als übergriffig bezeichnen würden.’“ FÜLLER 2011; S.46

13 FÜLLER 2011; S.131

14 „Auch Gustav Wyneken war ein glühender Anhänger der griechischen Erziehungskunst. ‚Der Mann sieht den Knaben’, schrieb Wyneken, ‚so schön und adelig, wie seine Liebe ihn sich träumt. Diesem Eros des Mannes kommt aber eine Sehnsucht des Knaben entgegen.’ Es gehe um ‚die wunderbare Vertiefung des Gefühlslebens und der Empfänglichkeit’.“ In: FÜLLER 2011; S.133.

15 Eine Quelle hierfür ist die Erzählung über Sokrates, den ein Jüngling unbedingt verführen wollte. Sokrates geht nicht auf dieses Werben ein. Oder Nietzsche, der sich mit den Texten und der Kultur des alten Griechenlandes sehr gut auskannte: „Die erotische Beziehung der Männer zu den Jünglingen bei den Griechen ist Voraussetzung der männlichen Erziehung [in der hellenischen Antike; M.H.].“ In: Nietzsche Register, Kröner Verlag 1943. Zitiert aus: Menschliches, Allzumenschliches Teil 1; S.210

16 „Es gibt Akteure in der Reformpädagogik, die erotisch- sexuelle Elemente in ihre erzieherischen Konzepte einbauen – und es ausdrücklich rechtfertigen. Dazu gehören frühe Helden der Landerziehungsheime, die vielen päderastischen Lehrern eine Heimat gaben. Aber auch die beiden heimlichen Bildungsminister der Republik, Hellmut Becker und Hartmut von Hentig, sind in dieser Hinsicht interessant. Beide sind selbstverständlich nicht als pädophile Täter anzusehen. Sie propagieren Eros nicht als Instrument der Befriedigung, sondern sie pflegen einen viel feineren platonischen Begriff von pädagogischem Eros. Aber beide beziehen in explizit auf Erziehung.“ Füller 2011; S.248

17 FÜLLER 2011; S.132

18 Vgl.: FÜLLER 2011; S.134

19 FÜLLER 2011; S.41

20 FÜLLER 2011; S.91

21 Mit 'oben' ist der erste Stock, mit 'unten' das Erdgeschoss des Hauses gemeint.

22 Vgl.: FÜLLER 2011; S.91

23 FÜLLER 2011; S.62

24 FÜLLER 2011; S.51

25 FÜLLER 2011; S.74f

26 FÜLLER 2011; S.81

27 FÜLLER 2011; S.84

28 FÜLLER 2011; S.122

29 FÜLLER 2011; S.123

30 FÜLLER 2011; S.127

31 FÜLLER 2011; S.128

32 Lutz van DICK: alternativschulen. Information- probleme- ertfahrungen. Reinbek bei Hamburg; 1979.

33 LEMPP, Reinhart: Angst vor dem Sittenstrolch, in STERN, 24 6/1977, S.102. So zitiert in DICK 1979; S.323 (Fußnote).

34 DICK, 1979; S.159

35 DICK, 1979; S.159

36 DICK, 1979; S.159/161

37 Ich möchte an dieser Stelle mutmaßen, dass Lutz van Dick nicht bedacht hatte, dass Ausführungen wie die zitierten mehrdeutig sind. In seinem 2007 erschienenen Buch ‚Die Geschichte von Liebe und Sex’ beschreibt van Dick unter dem Stichwort Kindersex, dass Kinder eine eigene Sexualität haben und die Erwachsenen im Kontext der antiautoritären Pädagogik die Kinder beraten oder unterstützen. „Kinder dürfen auch sexuelle Erfahrungen sammeln und werden dabei von Erwachsenen unterstützt und beraten.“ DICK 2007; S.169. Auch wenn die Trennschärfe fehlen mag, kann ich keine Ermunterung zum Ausleben pädophiler Neigungen aus seinen Zeilen herauslesen. Zumal sich seine Ausführungen konkret auf das Schulprojekt Summerhill beziehen und A.S. Neill meiner Kenntnis nach keine Zweideutigkeiten in diesem Zusammenhang formulierte.

38 So der Titel einer aktuellen Fortbildungsreihe der BFAS.

39 FÜLLER 2011; S.96

40 FÜLLER 2011; S.247

41 KROLL, Sylvia/ MEYERHOFF, Fred/ SELL, Meta (Hrsg.): Sichere Orte für Kinder. Stuttgart 2003

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